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Grammatik : Von der Theorie zur Praxis oder die Rundung des Quadrats

Bernard Dufeu

Definition :

Wir verwenden in diesem Beitrag den Begriff "Grammatik" im Sinne einer Präsentation der morpho-syntaktischen Eigenarten einer Sprache. Wir werden also nicht von Textgrammatik sprechen. Für andere Bedeutungen des Begriffs "Grammatik" verweise ich auf Henri Besse, Rémy Porquier: Grammaire et Didactique des Langues. Paris : Hatier-CREDIF, 1984, S. 10-12.

Grammatik : eine heimliche Liebe

Man vermutet oft, daß der Grammatikunterricht nur einen geringen Platz im modernen Unterricht einnimmt, da man voraussetzt, dass die Zeit des Grammatik-Übersetzungs-Unterrichts der Geschichte angehört. Günther Zimmermann gibt aber in seiner Untersuchung an, daß der Grammatikunterricht in der Schule zwischen 40 und 60 % und in der Erwachsenenbildung 44 % der Unterrichtszeit einnimmt (Siehe Günther Zimmermann: Grammatik im Fremdsprachenunterricht der Erwachsenenbildung. Ismaning : Hueber, 1990, p. 45 ). Bei der Hospitation von Lehrern, die mit einem Lehrwerk arbeiten, ist es auffällig, daß sie manchmal über lange Strecken nur Grammatik machen, es aber verneinen, wenn man sie darauf hinweist. Sie denken, daß die Lerner kommunikativ mit der Sprache umgehen, weil sie Sprachelemente der Fremdsprache benutzen. Die Grammatik wird von der Sprache getrennt. Ihr Lehren verselbständigt sich und wird manchmal zum Hauptziel des Unterrichts. Vielleicht wäre dieses Zitat von Robert Lowe (1867!)zu überdenken : " Learning the grammar is a joke compared with learning the language. The grammar is one thing, and the language another. I agree with the German wit, Heine, who said, 'How fortunate the Romans were that they had not to learn the latin language, because if they had done so they would never have had time to conquer the world." zitiert in Curtis, S. J.; Boultwood M.E.A. : A Short History of Educational Ideas. London, 1953. S. 430.

Die Ziele des Grammatikunterrichts

Welche Ziele haben dann die Lehrer, wenn sie der Grammatik einen derart wichtigen Platz einräumen? 

* Es wird meistens der Grammatik soviel Platz eingeräumt, weil Lehrer voraussetzen, daß man erst die Grammatik einer Fremdsprache lernen muß, um sie sprechen zu können. Diese Einstellung spiegelt wider, daß viele Lehrer in der Tradition des Altsprachenunterrichts weiterdenken. Eine Sprache lernen wird mit Grammatiklernen gleichgesetzt. 

* Im altsprachlichen Unterricht diente das Erlernen der Fremdsprache der Entwicklung der Analysefähigkeit. In diesem Zusammenhang hatte das Erlernen der Grammatik einen besonderen Stellenwert. Heute noch wird beim Lehren der lateinischen Sprache dem Wissen über die Sprache und der Beherrschung einer spezifischen Terminologie ein großer Raum gewährt. Dies wird manchmal als Reflexion über die Sprache betrachtet, obwohl die reflexive Tätigkeit dabei meistens recht gering ist, denn die Lerner sollen einfach hinnehmen, was ihnen vorgesetzt wird. Einige Fremdsprachenlehrer möchten nicht nur ein Können der Sprache, sondern auch ein Wissen über die Sprache vermitteln.

* Eine Kenntnis über die Fremdsprache soll dazu beitragen, daß die Lerner diese Sprache korrekt sprechen und damit besser kommunizieren. An sich ein lobenswertes Ziel, nur der Weg, um dies zu erreichen, ist nicht immer überzeugend.

* Es gibt auch psychologische Gründe, die den besonderen Stellenwert der Grammatik im Fremdsprachenunterricht teilweise erklären. Auch wenn sie nicht offiziell anerkannt werden, ist ihre Rolle nicht minder wichtig. Grammatik ist oft mit einem Gefühl von Sicherheit verbunden. Sie soll ein sicheres Wissen über die Sprache vermitteln. Sie gibt damit ein festes Bild von der Sprache, die wie streng geregelt aussieht und nicht als Spiegel eines mehr oder weniger chaotischen Konstrukts des Lebendigen erscheint. Sie soll den Sprechern auch eine Grundsicherheit liefern: Erst wenn ich die Grammatik beherrsche, kann ich sicher und korrekt sprechen. Die Gefahr einer Übergrammatisierung des Unterrichts kann aber dazu führen, nicht nur das Sprechen zu verzögern, sondern die Lerner zu einem "grammatisch fehlerfreien Schweigen" zu führen.

Der Unterricht in der Grammatik liefert auch den Lehrern Sicherheit. Es ist ein klar umrissenes Wissen, das sie den Lernern anbieten können. Sie fungieren damit auch als oberste Kontrollinstanz. Für einige von ihnen kann der Wunsch nach dem Korrekten, dem Sauberen in der Grammatik Resonanz finden.

Die Paradoxe des Grammatikunterrichts

Wenn man G. Zimmermanns Untersuchung über den Grammatikunterricht betrachtet, merkt man drei Hauptparadoxe.

Paradox 1:
Die Grammatik soll helfen, die Sprache als System besser zu erfassen. Kursteilnehmer finden aber, Grammatik sei "schwer zu verstehen, verwirrt, macht alles nur komplizierter"...( Zimmermann, S. 36).

Die Grammatik ist dann da, um die Probleme zu lösen, die sie selbst in die Welt setzt.

Paradox 2:
Laut G. Zimmermann unterrichten 18,1 % der Kursleiter sehr gern und 51,2 % gern Grammatik(Zimmermann S.31 ). 77,1 % von ihnen haben aber Schwierigkeiten, die Grammatik für die Kursteilnehmer interessant, motivierend darzustellen. 

Grammatik scheint eine schwer zu vermittelnde Liebe zu sein.

 Paradox 3:
Man hört einerseits, daß die Lerner Grammatik wollen, aber sie andererseits als "Horror", "das größte Übel", "notwendiges Übel" "trocken, unvermeidbar, ätzend" (G Zimmermann, S. 44) betrachten. 
Handelt es sich hier um masochistische Liebe?

Wir sehen bei diesen drei Paradoxen, daß die Vermittlung von Grammatik Anlaß für mannigfaltige Schwierigkeiten ist. Sie wird auf eine zu quadratische Weise vermittelt. Ihr Zugang müßte abgerundet werden!

Die drei Stadien des Grammatikunterrichts

Im traditionellen Grammatikunterricht geht der Weg von der grammatikalischen Erklärung zu ihrer Anwendung über drei Stadien :

  1. Die Regel verstehen

Laut G. Zimmermann haben 40% der Kursleiter Schwierigkeiten die Regel verständlich zu formullieren. 2% von ihnen "antworten, es bereite ihnen Mühe, die grammatikalischen Regeln zu verstehen" (G. Zimmermann, S. 52).

Einige Fragen stellen sich bei grammatikalischen Erklärungen:

* Welche Kenntnisse werden vorausgesetzt?

* Welche Sprache wird benutzt, welche Terminologie? Ist sie verständlich?

* Ist die Erklärung nachvollziehbar ?

* Ist die Regel wirklich verstanden worden, wie sie gemeint war?

Nach einer grammatikalischen Erklärung wäre es also nicht überflüssig, die Lerner zu fragen, was sie von der Regel verstanden haben.

  1. Die Regel behalten

Da Lerner die Grammatikregeln oft vergessen, ist die Frage angebracht: "Erlaubt die Formullierung der Regel, daß sie behalten wirde?"

  1. Die Regel anwenden.

Einige Regeln führen zu einer Verzögerung oder zu einem Stocken beim Sprechen. Andere sind von einem Beobachter- und nicht von einem Anwenderstandpunkt konzipiert worden. Daher die Frage :

* Kann die Regel leicht verfügbar sein?

Jedes Stadium kann also mit Schwierigkeiten verbunden sein.

Der traditionelle Grammatikunterricht geht von Stadium 1 zu 2 und 3. Andere Ansätze gehen von Stadium drei direkt zu eins (induktiver Vorgang).

Kriterien für eine gute Regel

Sollte eine Regel den Übergang von Stadium 1 zu Stadium 3 erleichtern, dann sollten dabei einige Kriterien erfüllt werden:

* Ist die Regel nützlich? Nicht jedes sprachliche Phänomen muß Gegenstand einer Regel sein.

* Ist sie klar, d.h. ist sie in einer verständlichen Sprache ausgedrückt?

* Ist sie nachvollziehbar? Entspricht sie mentalen Prozessen, die im

Sprechen verwirklicht werden können?

* Ist sie ökonomisch?

* Ist sie leicht zu behalten?

* Ist sie anwendbar? Einige Regeln beschreiben den Prozeß, sie können aber als solche in der Praxis nicht benutzt werden.

Eine freie Typologie der problematischen Regel

Ich werde zur Illustration Beispiele aus geläufigen Werken der Erwachsenenbildung nehmen, die einige Schwierigkeiten bzw. Gefahren bei der Grammatikvermittlung zeigen. Sie sind hier repräsentativ für die meisten Lehrbücher in diesem Bereich.

 

Die Nebelregel

Die Regel kann so undeutlich sein, daß der Lerner nicht klar umreißen kann, worum es in der Regel geht. Die Erklärung ist mit Wörtern wie "meistens, im allgemeinen, einige, häufiger, mehr" gespickt. Hier einige Beispiele :

" Die Umschreibung des Passivs („Die Tür öffnet sich“) ist im Französischen häufiger als im Deutschen. Das Französische hat mehr reflexive Verben." (Lebendiges Französisch 2, S. 201 ).

" Die meisten der nachstehenden Infinitivkonstruktionen werden im Deutschen durch ein Adverb wiedergegeben " (idem, S. 202)

" Die meisten Adjektive stehen hinter dem Substantiv, insbesondere, wenn sie eine konkrete, unterscheidende Bedeutung haben" (idem S. 203)

" Etliche Nomen auf -ail und fast alle Nomen und maskulinen Adjektive auf -al bilden den Plural auf -aux. (A bientôt 2, S. 142)

" Das Imparfait steht häufig mit Verben, die einen Zustand ausdrücken, bei denen Anfang und Ende unbestimmt bleiben." (idem, S. 143)

" Die Adjektive stehen gewöhnlich hinter dem Nomen, auf das sie sich beziehen. Einige sehr häufige Adjektive wie „beau, gros, grand, petit“ und „vieux“ stehen meist vor dem zugehörigen Nomen. ... Beachten Sie: Für die Stellung der Adjektive gibt es keine absolute Regel. Die oben formulierte Regel ist nur eine Richtschnur, keine Vorschrift." (idem S. 148).

Die Bananenschalenregel

Es ist die Regel, auf der man ausrutscht und an anderer Stelle landet als erwartet. Die Regel führt dann zum Irrtum. Ein typisches Beispiel im Bereich des Französischen liefern die Erklärungen des Gebrauchs von "qui" und "que". Eine Erklärung wie " Qui ist immer Subjekt des Relativsatzes. „Que“ ist immer Objekt des Relativsatzes " A Bientôt 1, S. 147 ist an sich richtig. Abgesehen von der Tatsache, daß nach G. Zimmermann " 90 % der von uns befragten Realschüler angeben, die Begriffe "Subjekt" und "Objekt" seien ihnen nicht bekannt " ( G. Zimmermann, S. 61), führt diese Erklärung zu einer mentalen Verschiebung bei vielen Lernern. Subjekt wird zu " Personen" und Objekt zu "Gegenständen". Daher solche Produktionen wie: « La femme qui je préfère... Le vase que me plaît... »

Die Späherregel

Einige Regel werden von dem Standpunkt des Beobachters verfaßt, der sich in aller Ruhe ein sprachliches Phänomen anschaut. Sie sind aber vom Standpunkt des Anwenders kaum bzw. unbrauchbar. Beispiel: Um den Unterschied zwischen Imparfait und Passé composé im Französischen deutlich zu machen, bieten viele deutsche Grammatiken als

Hinweis Erklärungen folgender Art :

" Im Passé composé werden in der Vergangenheit genau abgrenzbare Vorgänge und Handlungen wiedergegeben, d.h. Vorgang und Handlung werden als Ganzheit gekennzeichnet, das Imparfait betont hingegen den Verlauf von Vorgängen und Handlungen, Anfang und Ende sind unwichtig." A bientôt 1, S. 142.

" Das Imparfait steht häufig mit Verben, die einen Zustand ausdrücken, bei denen Anfang und Ende unbestimmt bleiben. "A bientôt 2, S. 143. Diese Regeln könnten höchstens bei schriftlichen Aufgaben von Nutzen sein.

Abgesehen von der Tatsache, daß der Begriff "Verlauf" zu Mißverständnissen führen kann, ist also eine solche Beschreibung unbrauchbar, denn sie ist im Sprechen nicht nachvollziehbar.

Folgende Übung kann es bei Lehrerfortbildung verdeutlichen:

Die Lehrer bilden Paare. A spricht mit B über das, was er letzten Sonntag gemacht hat. B versucht jedes Mal, sich zu überlegen, ob die Vorgänge genau abgrenzbar sind bzw. ob der Anfang und das Ende des Zustandes unbestimmt bleiben! Wenn er mitkommt, dann ist er besonders begabt! Ganz zu schweigen wenn man von A fordert, beim Sprechen die gleichen Denkprozesse wie B zu vollziehen, was an sich die Grammatiken vom Lerner fordern ! Wir werden später sehen (Siehe im gleichen Heft den Beitrag:

" Quand les temps s'emmêlent "), daß die Franzosen andere einfachere Anhaltspunkte haben müssen, wenn sie Imparfait und Passé composé anwenden.

An sich ist die Formulierung dieser Regel aus dem Englischen abgeleitet, wo, je nachdem, ob die Handlung in einem noch laufenden oder in einem abgeschlossenen Zeitraum stattfindet, Present Perfect bzw. Präteritum angewandt wird. Es ist möglich den Zeitbegriff als mentalen Prozeß parallel zum Sprechen präsent zu haben, dies ist aber mit dem Begriff "abgeschlossene oder nicht abgeschlossene Handlung" nicht nachvollziehbar. Hier scheitern auch die Regel im Englischen, die diesen Handlungsaspekt in Betracht ziehen.

Die Mammutregel :

Sie versucht eine ausführliche Darstellung des grammatikalischen Problems anzubieten. Sie soll dem Lerner helfen, das grammatische Phänomen systematisch zu erfassen.

Hierzu ein Beispiel aus Rendez-vous 1, S. 136 über das Fürwort "en": " Das Fürwort en kann für alle Hauptwörter oder deren Ergänzungen eintreten, unabhängig davon ob sie weiblich oder männlich sind, in der Einzahl oder Mehrzahl stehen. Es vertritt jedoch nur solche Hauptwörter, die mit dem unbestimmten Geschlechtswort „un, une“, des oder mit dem Geschlechtswort für unbestimmte Mengen du, de la, de l' eingeleitet werden. Folgt auf das Tätigkeitswort „combien, plusieurs“ oder eine Mengenbezeichnung („deux, un kilo“) ohne Nennung der bezeichneten Sache („vélos, pommes de terre“), so muss im Französischen diese Sache durch en vertreten werden.

 ... Wie alle Fürwörter steht en vor der Nennform oder vor dem veränderten Tätigkeitswort (vgl. A 41). "

Glücklich der Lerner, der sich nach dem Lesen dieser Regel klüger fühlt ! 

In diesem Bereich bietet der Konjunktiv im Französischen eine besondere Delikatesse. Wenn ich Regeln über den Gebrauch des Konjunktivs im Französischen lese, bekomme ich den Eindruck, die Franzosen müßten geniale Menschen sein, um so viele Seiten über Konjunktiv im Kopf zu haben. Sie müssen in Wirklichkeit nur über einfache Auslöser verfügen. Darauf werden wir in dem Artikel "Quand les temps s'emmêlent " zurückkommen. Um es drastisch auszudrücken: Jede komplizierte Regel ist eine schlechte Regel. Sie ist nicht nur pädagogisch schlecht, denn sie ist kaum bzw. nicht anwendbar, sie geht außerdem von einem falschen Standpunkt der Beobachtung aus. Sie verkompliziert eine Spracherscheinung, indem sie an jedem Baum die Blätter zählt, statt die wesentlichen Unterschiede zwischen den Bäumen aufzuzeigen.

Die Besserwisser-Regel.

Diese Regeln sind nicht für die Lerner gedacht, sondern für die Kollegen der Grammatikautoren. Sie sollen zeigen, daß die Autoren auf dem neuesten Stand der Sprachwissenschaft sind. ( Siehe dazu unten das Beispiel zum Schmuckstückregel, das einen soziokommunikativen Hauch aufweist oder die Erklärungen in Klein/Kleineidam Grammatik des heutigen Französisch, Stuttgart, Ernst Klett Verlag, 1986) S. 262-263 über "Discours" und "Récit" beim Gebrauch der Tempora).

Die Bahnhofregel

Beim Lesen dieser Regel verstehen die Lerner dank der Fachterminologie nur "Bahnhof". Hier ein Beispiel aus Rendez-vous 1, S. 141 über den Gebrauch von „Qui“ und „Que“: " Wie im Deutschen steht der Bezugssatz so nahe wie möglich bei dem Satzteil, der durch das bezügliche Fürwort vertreten wird." oder " Die indirekten Objektpronomen „me, te, se“, nous und „vous“ sind von den gleich lautenden und gleich geschriebenen direkten Objektpronomen nur im Satzzusammenhang zu unterscheiden " (A bient0t 1 , S. 148 ).

Die Schmuckstückregel

Diese Regel bringt Erklärungen, die zwar schön sind aber nicht nützen. Beispiel: Rollen und Verbformen " Wir unterscheiden drei verschiedene Rollen, die man beim Sprechen einnehmen kann: entweder ist man Sprecher, oder man ist Angesprochener, oder man ist eine Person (oder Sache), über die gesprochen wird. In allen drei Fällen kann es sich um einen einzelnen (Singular) oder zwei bzw. mehrere (Plural) handeln. Die traditionelle Grammatik sprach nur von der 1., 2. und 3. Person Singular oder Plural. Diese Unterscheidung reicht jedoch nicht aus, wenn wir z. B. im Deutschen an die höfliche Anrede denken. Wir benutzen daher in dieser Grammatik die Aufteilung nach Rollen. " ( A bient0t 1, S. 127- 128).

Dann kommt eine Aufstellung über eine ganze Seite in der zwischen Sprecher (ich) Angesprochener (du, Sie), Person oder Sache, über die gesprochen wird (er, sie, es, sie) unterschieden wird. Es ist zwar eine interessante Beobachtung, die im Trend der Sozialwissenschaften liegt, sie ist aber leider eher ein Erschwernis als eine Erleichterung für die Lerner.

Die Feldwebelregel

Die Form der Regel gibt den Befehl, was durchzuführen ist. Sie ist vom Typ " wenn... dann...“. Sie erklärt nicht das Phänomen und ist zugleich deskriptiv und präskriptiv.

Eine typische Illustration liefert die Veränderung des Partizip Perfekts mit "haben" und "sein" im Französischen. Die Grammatiken sagen, was zu tun ist, sie erklären nicht warum die Veränderung mit haben anders aussieht als mit sein. Es scheint ein willkürlicher Befehl vom Himmel zu fallen. Die Arbitrarität (Beliebigkeit) der Form des Zeichens (Siehe De Saussure) soll nicht zu der Vermutung einer willkürlichen Präsenz des Zeichens hinführen. Zum Beispiel ist die unterschiedliche Veränderung des Partizip Perfekts mit den Hilfsverben haben und sein berechtigt. Sie ist nicht willkürlich. (Siehe dazu : "Quand les temps s'emmêlent"). Eine Erklärung ihrer Begründung erleichtert das Verständnis und die Beherrschung des sprachlichen Phänomens. 

Die Durchlaufregel

Diese Regel löst eine Kettenreaktion aus. Dies kann ich illustrieren anhand der Art und Weise, wie ich Deutsch gelernt habe. Um den Satz " Gehen Sie mit meiner Freundin aus ? " zu sprechen, mußte ich folgende Prozesse durchlaufen :

1 - Zuerst die Konjugation von "gehen" im Indikativ Präsens:

Ich gehe / Du gehst / Er geht / Wir gehen / Ihr geht/ Sie gehen.

Dann die Inversion für die Frage: Gehen Sie... aus

2 - Welcher Kasus kommt jetzt nach mit? Jetzt sind die Präpositionen mit Dativ bzw. Akkusativ gefragt!

Also: Aus bei mit (nach seit von zu) also mit plus Dativ Ein Glück, daß er mit meiner Freundin ausging und nicht zu meiner Freundin ging, sonst hätte ich noch eine halbe Sekunde länger gebraucht. Eine Präposition mit Akkusativ hätte den Prozeß noch verlängert. 

3 - Jetzt war die Deklination mit "mein" in der weiblichen Form daran:

Nominativ: meine. Genitiv : meiner. Dativ : meiner. Also : mit meiner Freundin. Als ich mit dem Satz fertig war, war er schon weg und meine Freundin auch... Ein Glück, daß es nicht mit meiner besten Freundin war. Die Muttersprachler haben es leichter: Es gibt nach "mit" nur drei Möglichkeiten

            meinem
mit       meiner
            meinen

Die gleiche Konstruktion gilt für andere Präpositionen (aus, bei...).

Die Suche nach den möglichen mentalen Prozessen, die der Muttersprachler vollzieht, hilft uns das Herunterleiern des ganzen Paradigmas zu ersparen und ökonomischere Wege einzuschlagen. Wir werden auch später sehen, dass wir einen ähnlichen Ansatz bei der Beherrschung komplexerer Probleme anwenden können (Siehe: "Quand les temps s'emmêlent"). Es kann also nützlich sein, den Blick des Fremdsprachenlehrers auf die Unterschiede zwischen Fremdsprache und Muttersprache mit der Einstellung des Native Speakers zu verbinden.

Der Grammatikunterricht als Spiegelbild des Fremdsprachenunterrichts 

Der grammatikzentrierte Unterricht spiegelt oft zwei Hauptwege des Fremdsprachenunterrichts wider:

- Der kognitive Ansatz. Hier ist der Einfluß des altsprachlichen Unterrichts spürbar. Man soll die Regeln lernen und sie dann in der Fremdsprache anwenden.

- Der mechanistische Ansatz. Der Behaviorismus unterstützt diese Auffassung.  Hinter diesem Ansatz steht die Annahme, je mehr wiederholt wird, desto besser gelernt wird.

 Die Regeln werden entweder kognitiv oder anhand der Übungen induktiv erfaßt und dann geübt. Dies geht von der einfachen mechanistischen Drillübung zu komplizierteren und freieren Lernformen ( z.B. Rollenspiele bei denen die Aussagen zum Teil festgelegt sind - sogenannte "canevas de jeux de rôles“- siehe zum Beispiel Archipel, Paris, Didier, 1982).

Die Problematik des Transfers

Fremdsprachen- und Grammatikunterricht weisen beide die gleiche Schwierigkeit auf, die des Transfers. Hier geht es wieder nach dem bekannten Zweitaktprinzip des traditionellen Unterrichts : in einer ersten Phase lernt man, in einer weiteren Phase soll man das Gelernte in anderen Kontexten anwenden. In dieser zweiten Phase tauchen aber Schwierigkeiten auf: 

-- Beim kognitiven Ansatz können wir die Monitor- Theorie von S. D. Krashen als Illustration nehmen. (Siehe Stephen D. Krashen : Principles and Practice in Second Language Acquisition. Oxford : Pergamon Press, 1982). S.D. Krashen gibt einige Bedingungen an, unter denen eine gelernte Regel angewendet werden kann:

" (i) Time. In order to think about and use conscious rules effectively, a second language performer needs to have sufficient time. For most people, normal conversation does not allow enough time to think about and use rules ... 

 (ii) Focus on form. To use the Monitor effectively ... the performer must also be focussed on form, or thinking about correctness ( Dulay and Burt, 1978 ). Even when we have time, we may be so involved in what we are saying that we do not attend to how we are saying it. 

 (iii) Know the rule ... even the best students do not learn every rule they are exposed to. ( S. D. Krashen, p. 16).

Zur Illustration: Die Regel über den Gebrauch eines -s bei der dritten Person des Singulars im Indikativ ist jedem Englischlernenden bekannt.

Beim Sprechen wird dies aber von vielen vergessen.

-- Bei dem mechanistischen Ansatz beobachtet man, daß eingeschliffene Mechanismen doch nicht von den Lernern automatisch in neuen Sprachkontexten angewandt werden.

 

Die Grundeinstellungen zu einem Teilnehmerorientierten Grammatikunterricht

Die Wege, die bisher beschrieben wurden, betrachten die Schüler/ Studenten als Lerner, d.h. als Objekte eines Lernprogramms. Wir betrachten sie als Teilnehmer einer Gruppe, die vorwiegend die Fremdsprache erwerben, indem sie miteinander kommunizieren. Aus diesem Grunde werden wir jetzt von einem Teilnehmerorientierten und nicht lernerzentrierten Unterricht sprechen. 

Wie sieht dann der Erwerb der Grammatik in einem solchen Unterricht aus.

Fehler und Irrtum

Der traditionelle Unterricht betrachtet jede Abweichung von der Norm als einen Fehler. Diese Haltung ist in einem behavioristisch geprägten Unterricht noch verstärkt, da jeder Fehler die Konditionierung stören kann.

Jede Stunde wird behandelt, als ob sie die letzte wäre. Am Ende der Stunde soll das grammatikalische Problem beherrscht werden, sonst besteht die Befürchtung, daß sich die falsche Form tief einprägt und schwer aufzuheben ist. Wir teilen diese pessimistische Einstellung nicht, die dem Falschen eine größere Wirkung als dem Richtigen einräumt.

Wir betrachten den Irrtum als unentbehrlichen Bestandteil des Spracherwerbs, denn er erlaubt die Grenzen bzw. Eigentümlichkeiten der Fremdsprache zu erkunden. In dieser Spracherwerbskonzeption ist also der Irrtum erwünscht.

Der Versuch, Irrtümer zu vermeiden, würde den Erwerbsprozeß verzögern. Mit unserer Einstellung zum Spracherwerb ist auch der Begriff der "linguistischen Reife" verbunden. Jeder Teilnehmer macht seine individuelle Progression in der Fremdsprache. Der eine kann für die Beherrschung eines grammatikalischen Phänomens reif sein, der andere hat das Bedürfnis, einen anderen Weg einzuschlagen, bzw. andere Sprachprozesse vorher zu beherrschen, vielleicht ist er einfach in seiner fremdsprachlichen Entwicklung nicht reif, um sich des Problems bewußt zu werden, oder er hat einfach andere Prioritäten. Die Teilnehmer stehen genau wie wir in einem Entwicklungsprozeß. Sie müssen nicht alles sofort beherrschen, sondern brauchen dazu ihre Zeit und ihre Wege. Damit wird die Individualität des Erwerbsprozesses nicht nur anerkannt, sondern einbezogen.

Kommunikation und Korrektion

Wenn akzeptiert wird, daß die Vermittlung der Grammatik zu einer besseren Kommunikation beitragen kann, dann muß die manichäistische Opposition Kommunikation/ Korrektur ablegt werden. Ein kommunikativer Unterricht soll nicht mit einer "Laisser-faire-Haltung“ verbunden sein, bei der jede Aussage ohne korrektives Angebot stehenbleibt. Der Vorrang wird der Kommunikation zugeteilt, die Korrektur folgt der Kommunikation. D. h. je mehr die Teilnehmer in der Fremdsprache vorankommen und an Sicherheit gewinnen, desto genauer und konsequenter wird ihnen die sprachliche Korrektur angeboten. Die Grammatik wird in diesem Erwerbskontext nicht von der Sprache getrennt. Es besteht dadurch eine direkte Beziehung zwischen dem Sprecher und der Sprache, die er anwendet. Die Teilnehmer erwerben die Sprache, indem sie miteinander kommunizieren. Indem sie sprechen, verwenden sie kontinuierlich Grammatik.

Bestimmte Kommunikationssituationen fördern außerdem das Erscheinen bestimmter grammatikalischer Erscheinungen. Wenn ich Wünsche ausdrücken möchte, wird im Französischen der Gebrauch des Konjunktivs mit erhöhter Frequenz erscheinen. Wenn ich über Zukunftswünsche oder -planung sprechen will, werde ich natürlich die Formen des Futurs anwenden... Dadurch kann der Erwerb der Grammatik interaktiv entstehen.

Das Zusammenspiel von Kommunikation und Korrektur ist in einer kommunikativen Unterrichtsform realisierbar, wenn die Grammatik einen anderen Stellenwert bekommt und teilnehmergeeignete Wege zu ihrer Vermittlung eingeschlagen werden. Dazu sind zwei Leitlinien zu berücksichtigen.

Im Anschluß ( Outputposition)

Eine Regel ist nur nützlich, wenn ein Problem vorhanden ist. Statt die Grammatik vorzuplanen gehen wir von den Problemen aus, denen die Teilnehmer in der Fremdsprache begegnen. Statt in einer Inputposition ist die Grammatik in einer Outputposition. Der traditionelle grammatikzentrierte Unterricht erschwert den Lernprozeß, indem jedes sprachliche Phänomen zu einem grammatikalischen Problem wird. Dadurch werden nicht vorhandene Probleme geschaffen und die Fremdsprache als ein stetig kompliziertes Denkkonstrukt betrachtet. 

Statt dessen kann sich das grammatikalische Bewußtsein der Fremdsprache organisch entwickeln. Die sprachlichen Schwierigkeiten bilden Marksteine auf dem Weg zur Entdeckung der Fremdsprache.

Die Regel wird von der Gruppe entdeckt 

Anhand der entstandenen Probleme versucht die Gruppe ihre Regel zu formulieren. Damit werden die Terminologie der Gruppe und der Kenntnisstand der Teilnehmer berücksichtigt. Dies hindert nicht, daß der Lehrer die Fachterminologie vermittelt, wenn die Gruppe ihre Formulierung der Regel gefunden hat, oder auch zu dem Findungsprozess beiträgt, indem er die Beispiele und Probleme auf übersichtliche Weise ordnet. Dieser Zugang wurde von Henri Besse als "Conceptualisation" bezeichnet (Siehe Henri Besse : Les exercices de conceptualisation ou la réflexion grammaticale au niveau II. In Voix et Images du CREDIF 2/ 1974, S. 38 - 44).

Wir gehen davon aus, daß die Teilnehmer eine Regel besser behalten, die sie selbst entdecken. Außerdem trägt dieses Verfahren zur Entwicklung von Hypothesenbildung und von Entdeckungsstrategien bei. Dieser Zugang läßt Zwischenstadien im Erwerb der Grammatik zu, und geht nicht von einem Gesamt(-lehrer)wissen aus. Dadurch orientiert sich der Erwerbsprozeß dicht am Kenntnisstand der Teilnehmer der Gruppe. Da die Grammatik sich anhand der Probleme entwickelt, hat sie vor allem einen punktuellen Charakter. Dies schließt aber nicht aus, daß synthetische Arbeit, besonders in Verbindung mit schriftlichen Aktivitäten, stattfindet, bzw. daß Synopsen gegeben werden, um einen Gesamtüberblick über ein zum Teil beherrschtes sprachliches Phänomen zu gewähren.

Die Tabelle auf der folgenden Seite soll stichwortartig die Hautpunterschiede zwischen einem Grammatik- und einem Teilnehmerorientierten Unterricht verdeutlichen.

Ein wenig grammatikalischer Schluß

Es scheint mir wichtig, eine Konzeption der Vermittlung grammatikalischer Phänomene zu entwickeln, die die Teilnehmerzentriertheit des Gesamtspracherwerbs berücksichtigt. Dies fördert den Integrationsprozeß der Fremdsprache bei den Teilnehmern ebenso wie ihren Entdeckungsgeist und ihre Experimentierlust. Es weckt damit ihre Neugierde für die Fremdsprache und für das Fremde.

Grammatikorientiert Tabelle

 © Bernard Dufeu, 1993.

Dieser Beitrag ist erschienen in Bernard Dufeu (Hrsg.) : Interaktive Grammatik. (Berichte und Beiträge zur wissenschaftlichen Weiterbildung, Band 41. Mainz: Universität Mainz, 1993. S. 31-44.