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 Aussprache und Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen

 

Der GER-Deskriptor zur Beherrschung der Aussprache in der Fassung von 2001 sowie im Begleitband von 2018 (siehe Texte am Ende dieses Beitrags) stellt einen Zugang zur Aussprache dar, der aus phonetischen und aus methodologischen Gründen in mehreren Hinsichten bedenklich und praxisfern erscheint. Das möchte ich im Folgenden begründen.

 

 Allgemeine Orientierung des Gemeinsamen Referenzrahmen für Sprachen (GER bzw. GERS)

Der GER ist auf die Vermittlung von Lerninhalten [1] ausgerichtet und basiert auf einer Pädagogik des Zieles; das entspricht einer Pädagogik des Habens, die zum geplanten Lehren und Lernen von Wissen führt. Der GER wird vor allem als Referenz bei der Auswahl und der Progression von Inhalten und bei der Bewertung von Lernenden eingesetzt (daher die besondere Bedeutung der Niveaustufen in seinem Gebrauch). Er unterstützt damit eine vertikale Pädagogik, die auf einer tayloristischen Betrachtung der Sprache und der Lernprogression beruht. Diese Einstellung spiegelt sich auch im Bereich der Aussprache wider.

Die Beherrschung der fremden Aussprache wird von uns aus einer völlig anderen pädagogischen Perspektive betrachtet und entwickelt. Die Herangehensweise an die Aussprache entspricht einer Pädagogik des Seins [2], d.h. sie ist personenorientiert und nicht inhaltsorientiert [3]. Sie passt sich direkt den anwesenden Teilnehmern [4] und der Gruppe an und sie folgt keiner von außen bestimmten Progression. Sie entwickelt eine Pädagogik des Weges: Die Auseinandersetzung mit  einem  aussprachlichen Problem hängt nicht von einer vorgegebenen Reihenfolge ab, sondern vom konkreten Auftreten des Problems im Kurs. Diese Pädagogik führt damit zu einer erlebten Kenntnis der Sprache [5].
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[1]  "6.3.3. [...] Sie [die Lehrwerkautoren und Kursentwickler] müssen jedoch in jedem Fall konkrete, detaillierte Entscheidungen über die Auswahl und Abfolge der Texte, der Aktivitäten, des Wortschatzes und der grammatikalischen Inhalte treffen, mit denen die Lernenden konfrontiert werden sollen." 
[2] Zur Unterscheidung zwischen der Pädagogik des Habens und der Pädagogik des Seins bzw. zwichen einer Pädagogik des Zieles und einer Pädagogik des Weges siehe: https://www.psychodramaturgie.org/de/grundinformation/merkmale-der-psychodramaturgie und in Bibliografie unter Aufsätze/Grundlagen einer Pädagogik des Seins bzw. unter Aufsätze/ Der relationelle Ansatz.
[3] Um diesen Perspektivenwechsel zu illustrieren, kann man eine andere Disziplin heranziehen: In der Medizin gibt es Ärzte, die die Krankheit behandeln, und andere, die den Patienten behandeln (die integrative Medizin).  
[4] Zur besseren Lesbarkeit des Beitrags werde ich "Trainerin" für Trainerin und Trainer und Teilnehmer [TN] für Teilnehmerinnen und Teilnehmer benutzen.
Außerdem wende ich die Bezeichnung "Lerner" für die Pädagogik des Habens und "Teilnehmer" für die Pädagogik des Seins an, dies aufgrund ihrer unterschiedliche Funktion im pädagogischen Prozess. 
[5]  Ein Beispiel kann den Unterschied zwischen Wissen und Kenntnis veranschaulichen: Wenn ich ein Buch über ein Land lese, erhalte ich ein Wissen über dieses Land. Dieses Wissen ist im Wesentlichen intellektueller und vor allem abstrakter Natur. 
Wenn ich dagegen für eine bestimmte Zeit in diesem Land lebe, gewinne ich Kenntnisse über dieses Land und seine Bewohner. Die Kenntnis entsteht aus der Erfahrung, aus dem Erleben. Das Wissen durch Lesen oder andere Vermittlungsmittel wird dann auf die Kenntnis aufgepfropft. Genauso verhält es sich beim Sprachenlernen, der lehrwerkzentrierte Unterricht führt zur Vermittlung eines im Wesentlichen bewussten Lernens; das Erwerben der Sprache durch Erfahrung und durch Erleben führt dagegen zu einem Kenntnisprozess. Im Französischen haben wir für das erste den Begriff „savoir“ (Wissen) der zum „avoir“ führt, und für die Kenntnis den Begriff „connaissance“ (con-naissance: Mit-geburt). Die Kenntnis führt zu einer persönlichen Resonanz. Es sind zwei wesentlich verschiedene Zugänge zur Fremdsprache.

 

Der GER beruht auf einer phonologischen Konzeption der Aussprache

Der Begriff "Phonologische Kompetenz" (siehe Anlage 1) verweist auf den sprachlichen Zugang und auf das Ziel des GER. Er geht von einer abstrakten Konzeption der Aussprache und nicht von einer phonetischen und damit praktischen Betrachtung der Aussprache aus.

Der Vorrang der Lautkorrektur vor der Prosodie

Der GER setzt die Korrektur im segmentalen Bereich (Korrektur der Laute) an erste Stelle. Diese reduzierte Sicht der Phonologie führt zum Vorrang der „Laute“ im Korrekturprozess: Im GER erscheint unter 5.2.1.4 die Prosodie erst an vierter Stelle (siehe Anlage 1), im Begleitband steht sie an zweiter Stelle und hier auch erst nach der Lautkorrektur [6].

Diese sekundäre Stellung der prosodischen Merkmale hinter der Lautkorrektur wird durch die Beschreibung der verschiedenen Niveaustufen verstärkt. Der Obertitel dieser Niveaustufen lautet: „Beherrschung der Aussprache und Intonation“ (Anlage 1), als ob die Intonation nicht wirklich zur Aussprache gehören würde.

Im 2018 erschienenen Begleitband des GER stehen die Artikulation der Laute in der zweiten Spalte der Tabelle und die prosodischen Merkmale in der dritten Spalte (siehe die Tabelle in der Anlage 2). Die Bedeutung der prosodischen Merkmale bei der Aussprache von Lauten erfordert aber die umgekehrte Reihenfolge, denn diese „Suprasegmentalien“ und insbesondere der Rhythmus haben in Wirklichkeit eine „infrasegmentalische“ Funktion, da sie die Infrastruktur der Aussprache bilden und einen direkten Einfluss auf die Aussprache der Laute haben.

Der Laut als isolierte Einheit

In der Spalte über die “Lautartikulation” wird für B2 angegeben: “Can articulate a high proportion of the sounds in the target language clearly”. Die Angabe, dass einzelne Laute isoliert korrekt gebildet werden, spiegelt eine atomistische Sichtweise der Aussprache wider, die in der Praxis wenig hilfreich ist. Die Anforderung,  isolierte Laute richtig artikulieren zu können berücksichtigt die Tatsache nicht, dass dieselben Laute je nach Rhythmus, nach ihrem Platz in der Intonationskurve, ihrer Position in der Silbe oder in bestimmten segmentalen Umgebungen verändert werden und einem höheren Schwierigkeitsgrad entsprechen können [7]. Der Aussagewert dieser Beschreibung ist daher stark reduziert und kann zu falschen Schlüssen führen.

Die phonologische Opposition als Weg zur Lautkorrektur

Die theoretische Analyse der Aussprache, so gut sie auch sein mag, sollte nicht mit dem praktischen Weg zu ihrer Beherrschung verwechselt werden. Die phonologische Betrachtungsweise verleitet die Lehrbuchautoren oft dazu, die TN in Ausspracheübungen direkt mit phonologischen Oppositionen zu konfrontieren, um die Spezifizität eines Lautes, der in ihrer Muttersprache unbekannt ist oder anders ausgesprochen wird, hervorzuheben und zu lehren. Die Anwendung von Minimalpaaren oder die Präsentation von Lauten in phonologischer Opposition setzt die TN unter die schwierigsten Wahrnehmungs- und Produktionsbedingungen, denn die TN nehmen die Oppositionspaare oft als Homophone wahr. 

Unser Vorschlag: den aussprachlichen Kontext des Fehlers berücksichtigen

Es wäre für den TN leichter, zuerst den problematischen Laut in einer lautlichen Umgebung und/oder Position und mit den entsprechenden prosodischen Parametern anzubieten, die für seine Wahrnehmung und seine Produktion günstig sind, bevor man zur Kopräsenz oder Nähe des Lautes, mit dem er verwechselt wird, gelangt. Wenn der unbekannte Laut in verschiedenen Positionen beherrscht wird, ist es außerdem nicht notwendig, eine Opposition als Minimalpaar anzubieten, welches die Worte isoliert und damit dekontextualisiert anbietet. Eine Kopräsenz der beiden Laute kann ausreichen. " Où sont ses ciseaux ? “ [usõsesizo] (Wo ist ihre/seine Schere?) führt zur gleichen Unterscheidung der Laute [s] und [z] wie ein Minimalpaar, wie z.B. „seau/zoo“ [so/zo], das künstlich und kontextlos erscheint.

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[6] Bei der Beschreibung der linguistischen Kompetenzen (5.2.1, Seite 110) steht die phonologische Kompetenz in vierter Position nach der lexikalischen, der grammatikalischen und der semantischen Kompetenz. Wir dürfen vermuten, dass diese Reihenfolge bedacht und bedeutungsrelevant ist. Diese Position zeigt den Stellenwert der Aussprache im Vermittlungsprozess der Fremdsprache. 
[7] Z.B. hat der Laut [y] nicht die gleiche Tonhöhe, wenn er auf dem höheren Punkt und auf dem tieferen Punkt einer Intonationskurve steht, er wird höher nach einem [s] und tiefer nach einem [m]. Die Position im Intonem, in der Silbe und in der Lautumgebung haben einen Einfluss auf seine Struktur. Dies gilt für jeden Laut.
Ein [b] vor einem Konsonanten entwickelt nicht den gleichen Stimmhaftigkeitsgrad wie vor einem Vokal. Siehe dazu Dufeu, 1977 und Fußnote 11.

 

 

Der GER schreibt eine Progression in Niveaustufen beim Vermitteln der Aussprache vor

Der GER basiert auf dem Prinzip der Progression durch Niveaustufen und überträgt das Prinzip der Progression auf alle Sprachbereiche (siehe Anlagen 1, 2, 3). Aber im Bereich der Aussprache, wie auch in der Rechtschreibung, werden die Teilnehmer von Beginn des Erwerbs- bzw.  Lernprozesses an mit den prosodischen Merkmalen und potenziell mit allen Lauten der Zielsprache konfrontiert. Die Kriterien der Selektion und der Progression sowie der Inhalt dieser Progression selbst sind zu hinterfragen [8].

Auch die Kriterien dieser Niveaustufen sind kritisch zu betrachten. Nehmen wir ein Beispiel: In der GER-Fassung von 2001 heißt es für das C1-Niveau: "Kann die Intonation variieren und den Satzakzent richtig setzen, um feine Bedeutungsnuancen auszudrücken." Es soll also bis zum Niveau C1 (bzw. Im Deskriptor von 2018 sogar bis C2) gewartet werden, damit die TN die Intonation variieren können, um feine Bedeutungsnuancen auszudrücken. Die Nuancen im Ausdruck werden nicht nur verbal geäußert, sondern auch, und manchmal besonders, durch Tonfall, Blick, Mimik, Gestik, Körperhaltung, Distanz... Die Bedeutungsnuancen können mit diesen Ausdrucksmitteln von Beginn des Erwerbs- bzw. Lernprozesses an mitgeteilt werden.

Unser Vorschlag: Prosodisches Training der Aussprache von Anfang an

Sich mit einer Fremdsprache vertraut zu machen,
heißt an erster Stelle,
sich mit ihrem Rhythmus vertraut zu machen."

Was den Satzakzent betrifft, so ist es nicht erst ab C1, sondern von Beginn des Erwerbs- bzw. Lernprozesses der Fremdsprache an wichtig, die TN mit den rhythmischen Merkmalen der Zielsprache vertraut zu machen und dazu beizutragen, dass sie diese beherrschen. Der Rhythmus bildet die Infrastruktur der Aussprache [siehe Bild unten], er hat einen direkten Einfluss auf die Melodie und auf die Aussprache der Laute. Die Präzision der Lautartikulation im Französischen z.B. wird durch den Rhythmus bestimmt. Da der tonische Akzent meistens auf der letzten Silbe vor der Pause liegt, findet die artikulatorische Entspannung, die einem tonischen Akzent folgt, in der Pause statt. Deshalb behalten die Vokale im Französischen in jeder Wortposition ihre Lautqualität; aus demselben Grunde gibt es im Französischen keine Diphthonge.

 

Prosodische Pyramide Text fb

Aus diesem Grunde ist es wichtig,  schon am Anfang des Vermittlungsprozesses mithilfe von kurzen Aussprachesequenzen [9]  die rhythmischen Eigenarten der Fremdsprache zu vermitteln [10]. Übungen, die den Grundrhythmus der Fremdsprache körperlich hervorheben, können auch dazu beitragen (z.B. zu zweit einen Satz ihrer Wahl oder ein Sprichwort "durchlaufen", indem die Schritte den Rhythmus des Satzes begleiten; kurze Aussagen durch rhythmisches Klatschen in die Hände oder, besser noch, auf die Oberschenkel synchron begleiten, um ihre Besonderheit körperlich besser wahrnehmen zu lassen (vgl. Dufeu 1986, 2002). Kurze Gedichte eignen sich besonders gut für solche Aktivitäten, da sie die prosodischen Merkmale der Fremdsprache in konzentrierter Form enthalten. Diese Gedichte können von Körperbewegungen begleitet werden, die die rhythmischen Besonderheiten der Fremdsprache körperlich "übersetzen".

Abgesehen von diesem Einstieg in die Aussprache der Zielsprache durch ihren Rhythmus, beachten wir im segmentalen Bereich (Lautkorrektur) ein Grundprinzip der PDL, welches "Folgen statt vorangehen" lautet, d.h. an den Problemen wird erst gearbeitet, wenn sie auftauchen und nicht nach einer von einem Lehrbuchautor oder einem Didaktiker bestimmten Abfolge [11].

Wenn Laute problematisch sind, wird zuerst eine präzise Analyse der Fehlerquelle stattfinden. Liegt es am Rhythmus, an der Melodie, an der Position in der Silbe, an der Lautumgebung?

Die verschiedenen Hauptparameter der Aussprache - Rhythmus, Melodie, Laute - haben eine gegenseitige Wirkung aufeinander, die bei der Diagnose und Behandlung der Ausspracheschwierigkeiten berücksichtigt werden muss.

Am Anfang war der Klang!

Es ist wichtig, von Anfang des Erwerbs- und Lernprozesses an eine gute Aussprachequalität anzustreben, die dem Niveau B2, C1 in der Fassung von 2001 oder C2 in der Fassung des Ergänzungsbandes von 2008 zugeteilt wird. Außerdem sind schlechte Gewohnheiten schwieriger zu beheben, wenn sie fest eingefahren sind. 

In der PDL (Sprachpsychodramaturgie) führen wir die TN von Anfang an gezielt in den Rhythmus, in die Melodie und in die Artikulationsgewohnheiten der Fremdsprache ein. Übungen wie „das Doppeln“ erhöhen die Wahrnehmungsbedingungen und machen sie mit dem Fluss der Sprache vertraut. Jeder TN wird zuerst individuell in seinem Rhythmus in die Aussprache der Fremdsprache eingeführt.

Die individuelle Korrektur in einer Gruppe betrifft nicht nur die korrigierte Person, sondern ermöglicht es den anderen TN, durch Beobachtung und Identifikation zu lernen (wir haben oft beobachtet, dass die anderen TN ihre Lippen gleichzeitig mit der Person bewegen, die direkt an der Korrektur beteiligt ist). Was wir für einen Einzelnen tun, tun wir für die ganze Gruppe, wenn die TN sich mit ihm identifizieren können [12].

Einzelkorrekturen wechseln sich mit Gruppenübungen ab. Kurze Aussprachesequenzen werden oft von rhythmischen, melodischen oder segmentalen Bewegungen begleitet, die den Spracherwerb bzw. das Lernen unterstützen [13].

Die kurzen Korrektursequenzen werden oft in einer ersten Phase von rhythmischen, melodischen oder segmentalen Bewegungen begleitet. Die Makrobewegungen des Körpers bzw. die Mesobewegungen der Finger fördern aufgrund der natürlichen Synchronisierung der Körpermotorik die gewünschten Mikrobewegungen, die die Stimme in der Fremdsprache erreichen sollen [14].

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[8] Das Progressionsprinzip setzt eine gewisse Einheit zwischen dem, was gelehrt und dem, was gelernt wird, voraus. Jeder Lehrer und jeder Didaktiker weiß, dass diese Einheit glücklicherweise künstlich ist ("glücklicherweise", denn diese Einheit würde eine absolute Macht der LehrerInnen über das Gehirn ihrer TN implizieren). 
Es scheint logisch, in einer bestimmten Reihenfolge zu lehren, aber die Logik entspricht nicht unbedingt der Realität (sie ist manchmal weit davon entfernt). Die TN verstehen und behalten nicht grundsätzlich besser bei der Vermittlung einer Sprache, was in einer bestimmten Reihenfolge präsentiert wird. Sie treten in Resonanz mit dem Sprachangebot aufgrund einer Vielzahl von Parametern. Außerdem entspricht die angegebene Progression nicht zwangsläufig ihrer eigenen Sprachentwicklung in der Fremdsprache. 
[9] Es handelt sich nicht darum, Aussprachekurse am Anfang des Vermittlungsprozesses anzubieten, sondern nur kurze Sequenzen, die den Unterricht begleiten bzw. manchmal ad hoc stattfinden, wenn ein Problem auftaucht.

[10] Man kann den Vorrang der Vermittlung des Rhythmus als eine Ausnahme zu unserer Grundeinstellung der sprachlichen Progression gegenüber betrachten.
[11] Anbieten, dass ein bestimmter Laut in Verbindung mit einer Lerneinheit besonders behandelt wird, scheint uns künstlich und unbegründet. Diese Darbietungsform ist desto fraglicher in Lehrwerken, die sich an TN verschiedener Muttersprachen wenden.
[12] Wenn wir den TN empfehlen, sich mit dem Protagonisten zu identifizieren, führt diese Identifikation zu einer stärkeren inneren Wahrnehmung der Korrekturprozesse. 
[13] Siehe https://www.psychodramaturgie.org/de/grundinformation/aussprache/aussprache-und-bewegung  und insbesondere die ausführlichere Version in französischer Sprache https://www.psychodramaturgie.org/fr/fondements/prononciation/mouvements-et-prononciation

 

Das Verschwommene als Richtwert im GER 

Im Begleitband vom Februar 2018 enthalten die Tabellen des Anhangs 3:  Qualitative Merkmale gesprochener Sprache [14] eine Ansammlung von ungenauen Begriffe wie „im Allgemeinen“ (A2, B1), „in der Regel“(B2), „einem Standard annähern“ (B1), „einzelne Laute“ (B2), „kann praktisch alle Laute der Zielsprache artikulieren“ (C1), „ein sehr begrenztes Repertoire“(A1), „mit einiger Mühe“(A1), „ein begrenztes Spektrum an Lauten“ (A1) … Diese „elastischen“ Formulierungen durchziehen den GER insgesamt.

Die Aussagekraft eines solchen Deskriptors im GER hat aufgrund seiner Verschwommenheit eine geringe Relevanz für die Praxis. Was kann eine Lehrerin für ihren Unterricht konkret ableiten, wenn sie erfährt, dass ein TN eine phonologische Beherrschung des Niveaus B1 oder C1 hat? Die Niveaustufen sind zu allgemein und lassen zu viel Raum für ungenaue Interpretationen, um hilfreich zu sein. Sie haben einen zu geringen praktischen Informationswert in einer Disziplin, die Genauigkeit erfordert.

Unser Vorschlag: Präzision bei der Diagnose und der Behandlung der Fehler

Im Bereich der Aussprache geht es aber um Präzision, sei es bei der Wahrnehmung von „feinen“ Unterschieden, sei es  bei der Produktion der Aussagen. Es kommt sehr oft auf Details an, die den ganzen Unterschied ausmachen.

Diese Präzision wird an erster Stelle in der Diagnose erwartet. Auf welche konkrete Schwierigkeit stößt der TN? Was ist die Ursache des Problems? Liegt es an der Wahrnehmung oder an der Produktion? Wenn es an der Wahrnehmung liegt, dann müssen die Wahrnehmungsbedingungen verbessert werden, sei es auf der physischen Ebene (u. a. durch Nähe am Ohr, durch Einsatz der Lateralität…) oder auf der sprachlichen Ebene durch eine Veränderung des Textes, um die Wahrnehmung des problematischen Elements zu begünstigen. 

Liegt es an der Produktion, dann muss die Quelle des Problems genauer erfasst werden: Liegt es am Rhythmus, an der Melodie, an der Position in der Silbe, an der Lautumgebung [15], an der Artikulation …?

Die Präzision ist auch in der Behandlung des Problems erforderlich. Welcher Weg soll eingeschlagen werden, um diese spezifische Ausspracheschwierigkeit zu überwinden? Soll ich auf den Rhythmus, die Melodie, die Lautumgebung, die Position in der Silbe hinwirken?

Zur Information finden Sie hier die Parameter, auf die wir bei der Korrektur der Aussprache zurückgreifen [16]:

Ellipse der Korrekturparameter 2 Farbe

 

Im Bereich der Aussprache liegt die Lösung nicht immer da, wo das Problem erscheint. Die Korrekturwege erfordern manchmal Umwege, denn die Teilnehmer reagieren verschieden. Manchmal muss man den Weg ertasten, um das wirksamste Mittel zu finden. Dann muss der Korrekturprozess modifiziert werden, um den richtigen Weg zu finden. Die Auswahl der Mittel ist aber vielfältig [17].

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[14] Siehe Begleitband  Anhang 3. Qualitative Merkmale gesprochener Sprache:
 
https://www.klett-sprachen.de/gemeinsamer-europaeischer-referenzrahmen-fuer-sprachen/t-1/9783126769990
[15] Zur Illustration des Einflusses der Lautumgebung bei der Diagnose: Bei Deutschsprachigen kommt es oft vor, dass sie im Französischen ein [k] statt ein [g] für französische Ohren aussprechen, wenn der Laut [g] von einem [ʁ] gefolgt wird. „C‘est la grise“ [sɛlagʁi:z] klingt dann wie [sɛlakʁi:z]. Der Fehler erscheint bei weniger Sprechern, wenn das [g] vor einem [l] steht: in „Pour qui sonne le glas?“ wird [gla] viel seltener als [kla] wahrgenommen. Das [g] vor einem Vokal klingt bei den meisten Deutschsprachigen wie ein [g] im Französischen. D.h. die Aussprache eines Lautes kann nicht außerhalb eines Kontextes betrachtet werden. Zur Graduation der Aussprachefehler von Deutschsprachigen im Bereich des Französischen siehe Dufeu, 1977. 
Dies gilt auch für die Korrektur von Lauten. Wenn ich z.B. ein gerolltes [r] „entrollen“ will, um ein französisches [ʁ] zu bekommen und der TN hatte den Satz „Il est très beau“ mit einem gerollten [r] ausgesprochen, dann werde ich nicht zum Entrollen des [r] mit diesem Satz anfangen, um ein [ʁ] zu erreichen, denn „Konsonant + < r >“ ist die schwierigste Lautkombination, um ein [r] zu korrigieren. Ich fange zuerst mit Beispielen wie < r > im Auslaut: „C’est ma mère“, „J’aime la mer“, „C’est mon père“, "Il part"...  an. Progressiv über Zwischenstadien, z. B. "Il part à Paris", komme ich zur Lautkombination „Konsonant + < r >“, dabei schiebe ich oft zwischen dem Konsonanten und dem [ʁ] zuerst ein [ə] ein [ilɛtəʁɛbo], [ilɛgəʁɑ̃], das ich progressiv entfernen lasse, indem ich den TN anbiete, das [ə] zu denken, ohne es auszusprechen, oder die Aussage leicht schneller auszusprechen.
[16] Siehe auch dazu die Dokumente 4 bis 7  unter "Die Paramater zur Korrektur der Aussprache" in https://www.psychodramaturgie.org/de/grundinformation/aussprache/grundlagen-verbo-tonalen-methode].
Während einige Vertreter der verbo-tonalen Methode jeden Rückgriff auf die Artikulation ablehnen, verwenden wir manchmal Artikulationshinweise für die Aussprache von Vokalen
[17] Wir können auch Empfindungen, Eindrücke, mentale Bilder... heranziehen.
 
 

Zusammenfassung

Die Aussprache wird im GER und seinem Begleitband von einem theoretischen Standpunkt aus betrachtet.

Der GER behandelt alle Themen des Fremdsprachenunterrichts nach dem Prinzip der Selektion und der Progression der Inhalte und Kompetenzen. Die Aussprache lässt sich nicht in diese Progressionsmuster pressen.

Der Erwerb der Aussprache sollte nicht über mehrere Niveaustufen verteilt werden, vielmehr sollten die prosodischen Elemente von Anfang an vermittelt werden und die segmentalen Probleme erst bei ihrer Erscheinung behandelt werden.

Aufgrund seiner phonologischen Ausrichtung lenkt der GER zuerst die Aufmerksamkeit auf die korrekte Aussprache der Laute. Wir geben den Vorrang der Prosodie und insbesondere dem Rhythmus als Basis zur Aussprache. 

Die Aufteilung in Niveaustufen ist künstlich und nicht berechtigt.  Die Aussagekraft dieser Niveaus ist zu allgemein und zu ungenau, um die Aussprachekompetenz der TN einschätzen zu können. Es ist erforderlich, eine präzise und individuelle Diagnose über die Probleme in diesem Bereich zu erstellen, um dann die richtigen Korrekturparameter einzusetzen, die den TN helfen, ihre Schwierigkeiten zu überwinden.

Die Vorschläge des GER im Bereich der Aussprache erscheinen uns von geringer Relevanz und Hilfe bei der Diagnose und der Korrektur der Aussprache. Dies ist sehr bedauerlich, da die Aussprache in der Kommunikation und im Spracherwerbsprozess eine besondere Funktion und Wichtigkeit hat (siehe Dufeu, 2006 und 2008).

© Bernard Dufeu, 8. März 2021.
Basierend auf der französischen Version vom 30.10. 2018.

 

P.S. Manchmal ist es nützlich, die heiligen Kühe von ihrem Sockel herunterzuholen, damit sie wieder in Kontakt mit dem festen Boden kommen, und sie das Gras der konkreten Realität schmecken (oder rauchen) lassen.

 

 

Bibliographie und Sitographie

Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen 
http://student.unifr.ch/pluriling/assets/files/Referenzrahmen2001.pdf

Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, Lehren, Beurteilen. Begleitband. 200 Seiten ISBN 978-3-12-676999-0
https://www.klett-sprachen.de/gemeinsamer-europaeischer-referenzrahmen-fuer-sprachen/t-1/9783126769990

Die englische und die französische Fassung des Begleitbandes sind über Internet kostenlos zugänglich:
https://rm.coe.int/cefr-companion-volume-with-new-descriptors-2018/1680787989
https://rm.coe.int/cecr-volume-complementaire-avec-de-nouveaux-descripteurs/16807875d5

 

Veröffentlichungen von Bernard Dufeu über die Aussprache

Dufeu, Bernard

  • (1976): Ausspracheschulung im Französischunterricht. In Praxis des neusprachlichen Unterrichts. 2/1976, 144-155.
  • (1977): Die phonologisierte Ausspracheschulung. In Heinrich P. Kelz (Hrsg.): Phonetische Grundlagen der Ausspracheschulung. Hamburg, Buske Verlag, 1977, 147-162. 
    Die phonologisierte Ausspracheschulung
  • (1980) : La fonction de l'intonation dans la communication en psychodramaturgie linguistique. In Kühlwein/Raasch (Hrsg.): Sprache und Verstehen. Kongressbericht der 10. Jahrestagung der GAL Mainz. 1979. Tübingen: Gunter Narr, Bd. II. 117-119.
  • (1981): Intonation et mouvement corporel. In W.Kühlwein/A,Raasch (Hrsg.): Sprache: Lehren Lernen. Kongressbericht der 11. Jahrestagung der G.A.L. Band II, Tübingen, Gunter Narr, 108-110.
  • (1986 a und b): Rythme et expression. In Le français dans le monde. No 205. Novembre-Décembre. pp. 62-70 et correctif et bibliographie in No 208, avril 1987, 12-13. 
    Rythme et expression
  • (1990) Rhythmus, Melodie und Bewegung. In Eggers D. (Hrsg.):Intonation im Fremdsprachenunterricht für Erwachsene. Mainz: Universität Mainz, Bd.26, 53-68
  • (1992) : Sur les chemins d'une pédagogie de l'être. - Une approche psychodramaturgique de l'apprentissage des langues. Chapitre IV, Rythme et expression. Mainz, Editions Psychodramaturgie, 1992, 119-140. 
  • (1999) Les hypothèses fondamentales de la psychodramaturgie. In Le français dans le monde. Recherche et Application, 1/1999, 112-124..
  • (2002) Mouvement et poésie en psychodramaturgie. In New Standpoints.January, 2002,  3-5 und 50.
  • (2003): Wege zu einer Pädagogik des Seins. Ein psychodramaturgischer Ansatz zum Fremdsprachenerwerb. Kapitel VII, 267-316. Mainz, Centre de Psychodramaturgie.
  • (2006) Funktion und Korrektur der Aussprache am Beispiel des Französischen. In Praxis Fremdsprachenunterricht4, 51-56.
  • (2008) L'importance de la prononciation dans l'apprentissage d'une langue étrangère. Franc-parler.
    https://www.psychodramaturgie.org/images/doc/Importance%20de%20la%20prononciation.%20Franc-parler.pdf
  • (2016): Vers une approche holistique de la prononciation. In Recherche et Application. Le français dans le monde. No60, juillet 2016, 58-67 : "L'oral par tous les sens : de la phonétique corrective à la didactique de la parole"
  • (2018) Prononciation et CECRL  https://www.psychodramaturgie.org/fr/fondements/prononciation/prononciation-et-cecrl

 

► Anlage 1

5.2.1.4 Phonologische Kompetenz:

Quelle: Goethe Institut  https://www.goethe.de/z/50/commeuro/5020104.htm
bzw. http://student.unifr.ch/pluriling/assets/files/Referenzrahmen2001.pdf [S.117.]

GER Aussprache 5.2.1.4.docx

► Anlage 2 

 
Common European Framework of Reference for Languages: Learning, teaching, assessment.  Companion Volume with New Descriptors. Seite 136 
https://rm.coe.int/cefr-companion-volume-with-new-descriptors-2018/1680787989

CEFR Phonological control