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Die PSYCHODRAMATURGIE LINGUISTIQUE (P.D.L.) wird seit 1977 von Bernard Dufeu, Universität Mainz, in Zusammenarbeit mit Marie Dufeu, Centre de Psychodramaturgie Mainz, entwickelt.

Den Anstoß für die Umorientierung meiner pädagogischen Arbeit gab ein zweiwöchiges Experiment in „Expression spontanée“, das unter der Leitung von Willy Urbain vom 18. -30. Juli 1977 an der Universität Mainz stattfand. Dieses Experiment brachte mich dazu, meine Konzeption des Fremdsprachenunterrichts in Frage zu stellen, ohne damals zu wissen, dass sich daraus ein globaler Ansatz zum Erwerb einer Fremdsprache entwickeln würde. Auf der Basis dieser Erfahrung habe ich allmählich mit der Unterstützung meiner Frau, Marie Dufeu, die Sprachpsychodramaturgie entwickelt.
Die PDL beruht unter anderem auf psychodramatische und dramatische Grundlagen, die einen Teil ihrer Spezifität charakterisieren (daher ihr Name). Diese Grundlagen und Verfahren sind dem Fremdsprachenunterricht angepasst worden (vgl. Dufeu, 1992, 1994, 1996, 1999, 2003), denn es handelt sich nicht darum, Therapie oder Theater zu machen. Aus dem Grunde haben meine Frau und ich am Anfang der Entwicklung der PDL eine Ausbildung in Psychodrama gemacht, um die Grundlagen und Verfahren des Psychodramas zu vertiefen, die Unterschiede zwischen einem therapeutischen und einem pädagogischen Einsatz dieser Verfahren zu präzisieren und um eine Abgrenzung zwischen Pädagogik und Therapie zu vollziehen.

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Die psychodramatischen Grundlagen der Psychodramaturgie

Wir verdanken dem Psychodrama einige theoretische Grundlagen und drei Verfahren, die der Fremdsprachenpädagogik angepasst wurden.

Theoretische Grundlagen

Einige wesentliche Konzepte des Psychodramas sind in der Psychodramaturgie übernommen worden:

  • Das Konzept der schöpferischen Spontaneität: Der Mensch wird als schöpferisches Wesen, als Subjekt seines Erwerbsprozesses und nicht als Objekt eines in seiner Abwesenheit festgelegten Programms betrachtet. Damit die schöpferische Spontaneität ausgelöst wird, werden Aufwärmprozesse eingesetzt. Damit ist auch das Konzept des Spieles verbunden.
  • Das Konzept der Begegnung: Durch die sprachlichen Aktivitäten entwickeln die Teilnehmer persönliche Bezüge zueinander. Sie begegnen sich auf realer und imaginärer Ebene. Der oder die Trainer/-in begegnet dem Teilnehmer, wo er persönlich mit seinen Ausdruckswünschen und -bedürfnissen ist und wo er sich sprachlich befindet. Die Fremdsprache ist vor allem Mittel zur Kommunikation und zur Relation und nicht nur Ziel des Unterrichts.
  • Das Konzept der Handlung: Die Teilnehmer erwerben die Fremdsprache in Aktion und Interaktion ("Drama" bedeutet "Handlung").
  • Die globale Auffassung des Menschen: Die Teilnehmer werden in ihrer Gesamtheit - Körper, Affektivität, Intellekt- als Mitglieder einer Gemeinschaft (soziometrischer Aspekt) und in ihrer spirituellen Dimension angesprochen.
  • Der Erwerbs- und Lernprozess wird als Teil der Gesamtentwicklung des Teilnehmers aufgefasst. Lernen ist ein Lebensprozess und Leben ein kontinuierlicher Lernprozess. Lernen und Leben werden nicht voneinander getrennt. Der Erwerb der Fremdsprache trägt zur Individuation des Teilnehmers bei (Siehe Marie-Louise von Franz: "Der Individuationsprozess", in C.G. Jung, Der Mensch und seine Symbole,1968, S. 158- 229).
  • Die Teilnehmer- und Gruppenorientiertheit: Im Zentrum des Erwerbprozesses steht der Teilnehmer. Das Leben der Gruppe wird durch die Alternanz zwischen Einzel- und Gruppenübungen in den ersten Phasen der Psychodramaturgie und durch die Auswahl der Aktivitäten und Themen in weiteren Phasen berücksichtigt.
  • Die Progression der ersten vier Phasen der PDL beruht auf der ontogenetischen Progression, die Moreno in den Doppel-, Spiegelübungen sieht (J.L. Moreno: Gruppenpsychotherapie und Psychodrama, Stuttgart: Thieme, 1959, S. 85-88). Die Symbolik dieser Phasen und ihrer Reihenfolge wird in der PDL übertragen.

Technische Elemente

Haltungen und Verfahren des Psychodramas sind in die Praxis der Psychodramaturgie integriert worden:

  • Die empathische Haltung der Trainer statt der hierarchischen Haltung, die im traditionellen Unterricht herrscht.
  • Der Einsatz von Aufwärmübungen: Jeder Hauptübung wird eine Aufwärmübung vorangestellt, die auf die erforderliche Haltung in der Hauptübung bzw. auf ihre Durchführung vorbereitet.
  • Das Doppeln und den Rollenwechsel ebenso wie die morenosche Konzeption des Rollenspiels mit seinen begleitenden Techniken (Interview, Selbstgespräch ...) wurden teilweise direkt, teilweise in abgewandelter Form von uns übernommen.
  • Das Prinzip des Spiegelns. Die Spiegelübung sieht aber in der Psychodramaturgie Linguistique ganz anders als im Psychodrama aus. Seine Funktion ist auch eine andere (siehe Dufeu,B.:Wege zu einer Pädagogik des Seins, S. 67 und 160-170).
  • Den Aufbau des morenoschen Rollenspiels mit den dazu gehören Elementen: Techniken der Inszenierung, Interviewtechnik zur Präzisierung der Protagonisten...
  • Aspekte der Form der Gruppenleitung. Die Trainerin bietet einen Handlungsrahmen an und strukturiert die Phasen der Aktivitäten (es ist kein Laisser-Faire Stil), die Teilnehmer bestimmen die Inhalte. Die Trainerin unterstützt sie dann sprachlich, wenn sie es brauchen.

Die Psychodramaturgie versucht unter anderem, ein Ziel zu verwirklichen, das Moreno 1973 so ausdrückte :

The reproductive process of learning must move into second place; first emphasis should be given to the productive, spontaneous-creative process of learning. The exercise and training of spontaneity is the chief subject of the school of the future.”

(Moreno, Jakob Levy: Group Psychotherapie and Psychodrama, 1973, S. 81)

Diese Zukunft hat für uns schon begonnen, so dass wir die Psychodramaturgie als eine Psychodramapädagogik bezeichnen können.

Die dramaturgischen Grundlagen der Psychodramaturgie

Um jedes Missverständnis zu vermeiden, ist es wichtig, klarzustellen, dass der Begriff "dramaturgisch" nicht im Sinne von "theatralisch" zu verstehen ist. Es geht nicht darum, klassisches Theater zu spielen, was bedeuten würde, dass die Teilnehmer einen festen Text lernen und proben würden, um ihn anschließend vorzustellen. Es handelt sich darum, bestimmte dramaturgische Prinzipien mit einzubeziehen, die der Dramaturgie der Theaterstücken zugrunde liegen und die bewirken, dass diese Stücke beim Publikum eine gewisse Resonanz hervorrufen.

  • Die dramaturgischen Funktionen: Der Aufbau der Hauptübungen der Sprachpsychodramaturgie beruht von Anfang an auf der Verwendung dramaturgischer Elemente. Ausgehend von den sechs Funktionen der Dramaturgie, die Souriau beschreibt (siehe Emile Souriau: Les deux cent mille situations dramatiques, 1950), haben wir schließlich nur drei übernommen, die uns für die Pädagogik relevant scheinen. Wir haben diesen Funktionen relationelle Bezeichnungen gegeben, die besser als die dramaturgischen auf unsere Arbeit abgestimmt sind. Es handelt sich dabei um den Wunsch, die Opposition und die Unterstützung. Das Zusammenspiel dieser Funktionen wird auch bei der Auswahl von Themen und Texten berücksichtigt.
  • Das Prinzip der dramaturgischen Resonanz in der Auswahl der Themen, der Texte und in der Aufstellung des Settings.
  • Den Einsatz neutraler Masken in den ersten vier Tagen eines Intensivkurses verdanken wir Willy Urbain. Diese Masken fördern die Konzentration, die Rezeptivität und die auditive Wahrnehmung. Sie haben außerdem eine schützende Funktion.
  • Laura Sheleen hatte einen großen Einfluß auf unsere Auffassung des Lebens und unser Menschenbild. Sie sensibilisierte uns auf die Arbeit mit dem Mythodrama und auf seine symbolische Bedeutung (Sheleen L. 1983 bzw. 1987) ebenso wie auf Aspekte ihrer Raum und Zeit-Arbeit (Siehe Jacques Dropsy, 1973, 1984).
  • Aus dem Forumtheater von Augusto Boal haben wir eine Technik dem Fremdsprachenunterricht angepasst (siehe Dufeu Bernard: Wege zu einer Pädagogik des Seins, S. 200).
  • Wir benutzen außerdem als Zwischenübungen in den Sprachkursen und in der Trainerfortbildung einige Übungen, die in der Schauspielerausbildung eingesetzt werden. Diese Übungen fördern die Spontaneität, die Kreativität und die Ausdrucksfähigkeit der Teilnehmer

Die anderen Quellen der Psychodramaturgie

Die Fremdsprachendidaktik, die Lernpsychologie und die Sprachwissenschaft ebenso wie Erkenntnisse aus unserer Sprachlehrerausbildung haben der Entwicklung der theoretischen Grundlagen der PDL beigetragen.

Petar Guberina (Universität Zagreb) und Geneviève Calbris (CREDIF, Frankreich) führten uns in die verbo-tonale Methode ein, die den Stellenwert und die Verfahren der Aussprachekorrektur insbesondere am Anfang eines Anfängerkurses prägt.

Wir greifen auch auf Verfahren aus dem Bereich der Stimmbildung und der musikalischen Erziehung zurück. Einige Vokal- und Stimmübungen entstammen der Arbeit von Marie-Louise Aucher (Siehe Aucher, M.L., 1977a, b). Die gestische Begleitung von Gedichten und Texten beruht auf den Arbeiten von Marcel Jousse, dessen Techniken uns durch seine Mitarbeiterin Gabrielle Baron vermittelt wurden (Siehe Baron, G, 1981, Jousse, M., 1974a, b). Übungen und Verfahren der funktionellen Stimmtherapie sind auch in unsere Arbeit eingeflossen.

Die Entspannungstechniken, die wir anwenden, beruhen auf das autogene Training von J.H. Schultz, die Eutonie von Gerda Alexander und die Sophrologie von Alfonso Caycedo.

Wir verdanken einige Atemübungen Ilse Middendorf (siehe Middendorf, I, 1984) und einer ihrer Schülerin Helga von Hochberg.

Einige Sensibilisierungs- und Wahrnehmungsübungen stammen aus der Expression corporelle und einigen Körpertherapien (cf. Moshe Feldenkrais, Bioénergie...).

Diese Verfahren tragen der Erhöhung der Rezeptivität, der Wahrnehmung, der Ausdrucksfähigkeit und des Selbstvertrauens bei.

Theoretische Erkenntnisse der Gruppendynamik halfen uns, die Reihenfolge und den Aufbau der Übungen der ersten Tage zu gestalten und trugen zu unserer Wahrnehmung von Gruppenthemen in den fortgeschrittenen Gruppen bei (siehe Anzieu, 1983, 1984). Sie flossen auch in die Progression der Übungen in den ersten Tagen eines Intensivkurses (siehe Dufeu Bernard: Wege zu einer Pädagogik des Seins, Kapitel III, IV und V) ein und haben einen Einfluss auf die Auswahl der Themen in Beziehung zu dem Gruppenleben in den Kursen für Fortgeschrittene.

Man darf die Quellen mit den Mitteln
und den Zielen nicht verwechseln.

Alle diese Quellen wurden an die pädagogischen Erfordernisse der Sprachvermittlung angepasst, genau so wie Sportler und Künstler Verfahren und Techniken aus anderen Fachrichtungen (Entspannungsübungen, Konzentrations-, Visualisationstechniken...) in Anspruch nehmen und ihrer Disziplin anpassen, um ihre Wahrnehmungsfähigkeit und ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Sie bedeuten eine Bereicherung für die Psychodramaturgie Linguistique und tragen ihrer Vielfalt und Wirksamkeit bei.

Neue Erkenntnisse und neue theoretische Grundlagen werden gewonnen, die die Kohärenz der Psychodramaturgie und damit ihre Effizienz verstärken. Neue Aufwärm-, Haupt- und Zwischenübungen ebenso wie neue Techniken werden ständig seit der Entstehung der Psychodramaturgie entwickelt, um den Sprachlehrern immer mehr Variationen anzubieten, um einen teilnehmer- und gruppenorientierten Unterricht durchzuführen.

Die Psychodramaturgie Linguistique steht in einem fortwährenden Entwicklungsprozess. Sie ist für uns eine spannende Herausforderung.

© Bernard Dufeu, 2001
Auszüge aus: Wege zu einer Pädagogik des Seins. Mainz: 2003, 59-74.

Letzte Veränderung: 11. Juni 2011